Suizid
Der letzte Chat
Der Student Abraham Biggs wollte nicht mehr leben, im November 2008 kündigte er im Internet seinen Selbstmord an. Auf der ganzen Welt sahen ihm Menschen beim Sterben zu. Wie konnte es dazu kommen?
Die letzten Bilder von Abraham Biggs, die eine Kamera um die Welt schickt, kommen aus seinem Schlafzimmer. Sie zeigen einen jungen Mann, der in weißen Boxershorts und grauem T-Shirt auf dem Bett liegt. Er hat sich nicht herausgeputzt für diesen letzten Auftritt.
Die Webcam gibt nur einen kleinen Ausschnitt des Zimmers wieder: den reglosen Abraham, 19 Jahre alt, das zerwühlte Bett, die kahle Wand dahinter. Der Junge hat dem Objektiv den Rücken zugewandt, ein Arm ist unter seinen Oberkörper geklemmt, die nackten Beine liegen aufeinander. Seit zehn Stunden liegt er nun schon da.
Abraham Biggs hatte im Netz angekündigt, er werde eine »Überdosis« nehmen, dann hat er die Medikamente aufgezählt, die er schlucken werde. Und er hat auf eine Webseite verwiesen, auf der man ihm dabei zusehen kann. Live.
220 Menschen schauen an diesem Nachmittag des 19. November 2008 auf Abraham Biggs, die Zahl ist auf der Webseite eingeblendet. In Großbritannien sehen sie ihm zu, in Australien, in Mexiko, in den USA. Sie blicken nach Pembroke Pines, einer Kleinstadt an der Ostküste Floridas. Und keiner glaubt, dass er in Lebensgefahr ist. Misstrauen sie den digitalen Bildern und halten das, was sie sehen, für gefälscht? Können sie nicht unterscheiden zwischen dem, was virtuell, und dem, was real ist? Sind die Menschen durch die Anonymität und die Unverbindlichkeit des Internets verroht? Oder ist das ein vor Publikum begangener Selbstmord, so wie andere auch – bloß dass das Publikum diesmal am Computer sitzt?
Nur ein Schüler aus Indien greift zum Telefon und versucht, Abraham zu retten. Und schließlich erscheint die Nachricht eines Computerexperten aus Indianapolis im Textfeld neben dem Videobild: »Ich habe die Polizei gerufen.«
Elf Stunden zuvor, um vier Uhr in der Früh, spielt Abraham in seinem Zimmer am Computer. Sein Vater kommt herein, er ist wach, weil er nebenan noch Büroarbeiten erledigt hat. »Vergiss nicht, dass wir zum Mittagessen verabredet sind«, sagt der Vater, dann geht er schlafen, er muss um sieben zur Arbeit. Später wird er sagen, ihm sei nichts Ungewöhnliches aufgefallen an seinem Sohn, der oft bis spät in der Nacht am Computer saß. Der Vater weiß nicht, dass Abraham in den Tagen zuvor seinen Blackberry verkauft hat, mit dem er überall E-Mails las und beantwortete. Und seine geliebte Playstation. Dass diese Dinge, die dem Sohn einmal so wichtig waren, ihm nichts mehr bedeuten.
Abraham Biggs senior, der vor drei Jahrzehnten aus Ghana in die USA kam, ist Mathematikprofessor am Broward College. Auch sein Sohn studiert dort und arbeitet als Tutor im Computerraum. Abraham kennt sich gut aus mit allen möglichen Programmen, aber er ist keiner dieser Jungen, die ihr Leben im Schein des Monitorlichts fristen. Er ist eins neunzig groß und sportlich, ein Mädchentyp, der seine Freundinnen so oft wechselt, dass seine Mutter irgendwann aufhört, sich ihre Namen zu merken. Abraham gibt gern den Entertainer. Auf seiner Seite bei der Onlinegemeinschaft MySpace hat er ausschließlich Partyfotos von sich und Freunden hochgeladen, als wolle er allen zeigen, wie viel Spaß er hat.
Nachdem sein Vater zu Bett gegangen ist, schickt Abraham um 4.17 Uhr eine SMS an seine Mutter. Sie ist Krankenschwester im Memorial Hospital im benachbarten Städtchen Hollywood und hat Nachtdienst. Doreen Facey-Biggs, 47, sieht gerade nach einem ihrer Krebspatienten. Sie ist die Einzige auf ihrer Station, die keine weiße Kleidung trägt, sondern geblümte Oberteile und rosa Hosen, ihre Haare hat die gebürtige Jamaikanerin zu Dutzenden kleiner Zöpfe geflochten. Sie verlässt das Patientenzimmer und liest die SMS: »Ich hasse mich.«
Vier Monate später hat die Mutter die Nachricht immer noch auf ihrem Handy gespeichert. Auf ihrem Wohnzimmertisch liegen ihre letzten drei Mobiltelefone, deren Speicher randvoll mit Textnachrichten ihres Sohnes sind. »Ich komme zu dir, es geht mir so schlecht«, hatte er ihr ein paar Monate vor seinem Tod geschrieben, »ich will Antidepressiva.« Abraham litt an einer bipolaren Störung, bei der sich extreme Manie und Depression abwechseln. Die Mutter hoffte, Abraham und sie würden irgendwann einmal zusammen die SMS-Nachrichten lesen und sich freuen, dass diese Zeit vorbei ist.
Doreen Facey-Biggs wohnt mit ihrer Tochter Rosie, deren Mann und zwei Kindern in einem kleinen Bungalow außerhalb des Zentrums von Hollywood – nicht Hollywood, die Traumfabrik, sondern eine Kleinstadt am Pazifik mit softeisfarbenen Häusern, auf die das ganze Jahr die Sonne scheint. Wenn man das Haus betritt, steht man schon mittendrin im Wohnzimmer, es ist eng hier, Spielzeug liegt herum, ungebügelte Wäsche hängt über einem Stuhl. Bob Marley lächelt von einem Foto über das Chaos hinweg. Man hat den Eindruck, dass hier eine Familie lebt, die gerne nah beieinander ist. Rosie sagt, sie wolle nicht ohne die Mutter wohnen.
Abrahams Eltern ließen sich 2004 scheiden. Abraham hatte fortan ein Zimmer beim Vater im benachbarten Pembroke Pines, wo er sich meistens aufhielt, und eines bei der Mutter. Sie und seine 27-jährige Schwester Rosie waren enge Vertraute für ihn, den beiden offenbarte er sich, als eine seiner Freundinnen glaubte, schwanger zu sein. »Wir sind sehr offen miteinander«, sagt die Mutter. Sie und der damals zwölfjährige Abraham waren auch bei der Geburt von Rosies erster Tochter dabei und filmten. Mit ihnen waren noch zehn Freunde und eine weitere Videokamera im Kreißsaal.
Am 19. November 2008 wäre es Doreen Facey-Biggs lieber gewesen, es hätte keine Kamera gefilmt.
Als sie die SMS ihres Sohnes liest, gerät sie in Panik. Zweieinhalb Monate zuvor hat Abraham versucht, sich mit Tabletten zu vergiften. Sie ruft ihn sofort an.
»Was bedeutet diese SMS?«, fragt sie ihn. »Willst du dich umbringen? Ich liebe dich doch.« – »Das weiß ich«, antwortet Abraham. »Und ich weiß, dass es eine Menge gibt, wofür es sich zu leben lohnt.« Dass er so entspannt klingt, beruhigt die Mutter.
Abraham loggt sich um kurz vor fünf bei Bodybuilding.com ein, einer Website, die er fast jeden Tag besucht. Eigentlich tauschen sich die Besucher dort über Trainingsmethoden und Präparate zum Muskelaufbau aus. Aber Abraham ist kein Bodybuilder, meist verbringt er seine Zeit im Forum für Vermischtes. Dort debattieren die Mitglieder, vorwiegend Männer, über die Vorzüge der Nassrasur und Probleme mit der Freundin. Wie alle dort gibt Abraham seinen echten Namen nicht preis, er nennt sich CandyJunkie. »Das Forum ist wie eine Familie für mich«, schreibt er in einem seiner Beiträge. Eine Familie, in der es intim und gleichzeitig anonym zugeht. Man kennt ihn dort als jemanden, der sich gern merkwürdige Scherze erlaubt. Einmal schreibt er, sein Vater habe ihn rausgeworfen, deshalb trampe er durch die USA. Er hinterlässt seine Handynummer. Später stellt sich heraus, dass die Geschichte erfunden war. Ein anderes Mal kündigt er an, er wolle 40 Beruhigungstabletten schlucken. »Have fun«, ist die Antwort. Am nächsten Tag ist er wieder im Forum aktiv, als sei nichts gewesen.
In jener Novembernacht schreibt CandyJunkie um 4.56 Uhr: »Fragt einen Typen, der sich heute (wieder) eine Überdosis verpassen wird, was ihr wollt.« Er hinterlässt einen Verweis auf eine Videoseite: www.justin.tv/feels_like_ecstacy. Justin.tv gibt es seit 2006, hier können Internetnutzer die Bilder ihrer Webcam in Echtzeit ausstrahlen, ihren eigenen Live-Kanal gestalten. Wer in dieser Nacht Abrahams Link anklickt, sieht sein Schlafzimmer. Der Countdown seines Abschieds hat begonnen. Die erste Reaktion lässt sieben Minuten auf sich warten. SweatyJohnson aus New York fragt: »Warum?«
»Ich will sterben«, antwortet CandyJunkie um 5.05 Uhr.
»lol«, schreibt jonB89; lol bedeutet laughing out loud – lautes Gelächter.
Ein weiteres Forumsmitglied fragt ihn, wie viele Tabletten er genommen habe.
»8 Xanax. 7 roxies und 3 ultram.«
Xanax, das Abraham gegen seine Angstzustände verschrieben bekommen hat, ist in den USA ein gängiges Medikament. Dass es in dieser Menge und in Kombination mit den beiden Schmerzmitteln Roxicet und Ultram zum Tod führen kann, weiß vermutlich niemand im Forum.
»Nicht schon wieder, der versagt jedes Mal«, schreibt Fairy.
Alle sitzen allein vor ihren Bildschirmen, aber es ist, als stünde eine Menge vor einem Mietshaus und beobachtete einen Lebensmüden am Fenstersims. Alle recken die Köpfe, manch einer schreit: »Spring!« Und der eine oder andere holt Hilfe. Oder ist es im Internet doch leichter als auf der Straße, Hilfesuchende zu ignorieren?
»Das Netz allein macht die Menschen nicht kälter«, sagt der Internetexperte Urs Gasser, Professor für Informationsrecht im schweizerischen Sankt Gallen und Direktor des Berkman Center for Internet & Society an der Harvard University. Wenn bei Jugendlichen eine emotionale Abstumpfung zu beobachten sei, sagt Gasser, sei nicht das Internet schuld, sondern der insgesamt erhöhte Medienkonsum. »Wenn ein Jugendlicher schon Hunderte von Leichen im Fernseher gesehen hat, kann das natürlich Folgen haben. Aber die Ursachen für ein Verhaltensmuster sind komplex, die Bilder an sich nur Mosaiksteine, die eine Veranlagung allenfalls verstärken können.«
Menschen sind seiner Ansicht nach im Netz genauso zur Solidarität fähig wie überall sonst. »Sie müssen nur lernen, sich mit offenen Augen in diesem neuen Medium zu bewegen«, sagt Gasser. So haben spanische Internetnutzer im März 2007 rechtzeitig die Polizei alarmiert, nachdem ein Mann aus Bremerhaven in einem Chatroom angekündigt hatte, er werde sich erschießen. Damals haben die User selbst die Initiative ergriffen. Was im Netz jedoch fehlt, ist ein Warnsystem. Das verlangt etwa die Organisation Wired Kids, die in den USA gegründet wurde und zu deren letzter Konferenz im Februar auch Abrahams Schwester Rosie reiste. Vor Vertretern der Internetindustrie forderte sie die Einführung eines Notknopfes auf den Websites, mit dem die Nutzer ein Bildschirmfoto an den Administrator schicken können. Hätte es so einen Knopf auf Bodybuilding.com gegeben, glaubt Rosie, hätte ihrem Bruder rechtzeitig jemand geholfen.
Um 5.18 Uhr schreibt CandyJunkie seinen letzten Eintrag im Forum von Bodybuilding.com. Es ist ein Abschiedsbrief, der eine ganze Monitorseite einnimmt. »Ich kann niemandem erklären, warum ich jeden neuen Tag verabscheue«, tippt er. »Der Hass, der in mir tobt, richtet sich nicht gegen die, die ich so sehr liebe. Dieser Hass richtet sich voll und ganz gegen mich.« Und: »Vergebt mir.« Als er fertig ist, legt er sich aufs Bett, um zu schlafen. Die Kamera läuft. Noch wäre Zeit, ihn zu retten.
Ein warmer Märztag 2009 in Florida. Doreen Facey-Biggs hat Besuch von ihrer Schwester Kike aus Washington. Kike hat sich am Morgen spontan ins Flugzeug gesetzt, weil Doreen am Abend zuvor am Telefon geweint hat. Gerade sind sie vom Einkaufen nach Hause zurückgekehrt, aber Doreen will nicht aus dem Auto steigen. Sie will diese Höhle aus Blech nicht verlassen, die sie abschirmt vor der Welt da draußen. Und schon gar nicht will sie jetzt Fragen beantworten. Als sie anderthalb Stunden später doch ins Haus kommt, entschuldigt sie sich. »Der Schmerz wird nicht weniger, wie alle behaupten. Er wird schlimmer. Manchmal denke ich, ob es nicht besser wäre, selbst tot zu sein.« Ihre Schwester wirft ihr einen besorgten Blick zu. Doreen zieht ihre Bluse straff, dann räumt sie den Kühlschrank ein.
Es gibt nicht viele Augenblicke, in denen Abrahams Mutter sich Schwäche erlaubt. »Wir Schwarzen stammen von Sklaven ab, die ums Überleben kämpfen mussten, wir sind darauf konditioniert, stark zu sein«, sagt sie. Auch in Obamas Amerika litten die Schwarzen noch unter diesem problematischen Selbstverständnis. Das habe es Abraham so schwer gemacht, seine psychische Erkrankung zu akzeptieren. »Ein Schwarzer«, sagt sie, »legt sich nicht auf die Couch und analysiert sein Leben.« Er versucht, es selbst in die Hand zu nehmen. Dass Abraham das nicht gelang und seine Familie sich seinetwegen sorgte, habe er sich selbst am meisten übel genommen.
Im Sommer 2006, als Abraham von einem mehrwöchigen Armeetraining zurückkommt, fällt der Mutter zum ersten Mal auf, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmt. Er ist 17 und noch auf der Schule. Die Mutter war gegen dieses freiwillige Kampftraining, doch der Junge findet, es zeuge von Stärke, Soldat zu sein. Das Ausbildungscamp habe den Sohn verändert, sagt die Mutter. »Er hatte Selbstmordfantasien und das Gefühl, den Verstand zu verlieren.« In den Monaten danach bekommt er Panikattacken, er leidet unter Schwindelgefühlen, bricht plötzlich in Tränen aus. An manchen Tagen ist er hyperaktiv, trifft Freunde und ist bis früh um fünf wach. Dann wieder liegt er tagelang zu Hause im Bett wie in einem Grab. Seiner Schwester sagt er, sein Wunsch zu sterben sei so stark, dass er nicht wisse, wie er dagegen ankämpfen solle. Seine Medikamente und eine Gruppentherapie helfen nicht. Die Mutter denkt, Abraham müsse vielleicht mal raus aus seinem Alltag. Sie überlegt, mit ihm nach Afrika zu reisen, zu seinen Wurzeln, damit er zu sich selbst finde.
Seine Freunde bekommen von alldem offenbar gar nichts mit. Für sie war Abraham einer, auf den man sich verlassen konnte, einer, den man auch nachts anrufen konnte, wenn es einem schlecht ging. »Er war unglaublich hilfsbereit«, sagt eine Freundin, die 18-jährige Kristy Philips. Wenn sie sich trafen, hatte er oft Spielzeug für ihre kleine Tochter dabei, die sie allein großzieht. Andere Freunde, die Probleme mit ihren Eltern hatten, brachte er mit nach Hause und bat seine Mutter, sie bei ihnen wohnen zu lassen. Kristy telefonierte jede Woche ein paar Mal mit ihm, sie gingen zusammen mit anderen Freunden in Clubs und auf Partys am Strand. »Abraham hat uns alle zum Lachen gebracht«, sagt Kristy. Sie versteht bis heute nicht, warum er ihr von seinen Depressionen nie etwas erzählte.
Am 1. September 2008 versucht Abraham zum ersten Mal, sich umzubringen. Er verkündet in einem Internetforum, dass er eine Überdosis genommen habe. Eine Bekannte, die dort eingeloggt ist, ruft die Polizei. Die Beamten finden ihn rechtzeitig und bringen ihn ins Krankenhaus. Die nächsten fünf Tage und Nächte bleibt die Mutter am Bett ihres Sohnes. Dann wird der Junge entlassen, eine genaue Diagnose gibt es nicht.
Erst Wochen später erkennt ein Arzt, dass Abraham unter einer bipolaren Störung leidet, bei der sich extreme Manie und Depression abwechseln. Einmal ist der Patient euphorisch, dann wieder fühlt er sich antriebs- und wertlos. Die Krankheit hat genetische Ursachen, ihr Ausbruch und Verlauf wird aber auch von Stress und traumatischen Erlebnissen beeinflusst.
Doreen Facey-Biggs ist heute Mitglied in einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Bipolaren. Sie weiß jetzt, dass diese Krankheit oft erst Jahre nach ihrem Ausbruch erkannt wird. Und dass es dauern kann, bis das richtige Medikament gefunden wird. Anfangs machte sie sich Gedanken, welchen Einfluss die Scheidung von ihrem Mann auf Abrahams Krankheit gehabt haben könnte. Aber die Ärzte beruhigten sie, eine Trennung der Eltern allein löse keine manische Depression aus.
Mayra Martinez ist eine der ganz wenigen, denen Abraham von seiner Krankheit erzählt hat. Die 18-Jährige ist ein stilles, blasses Mädchen mit schwarz lackierten Fingernägeln. Die beiden waren zwar nur für kurze Zeit ein Paar, telefonierten aber auch nach der Trennung jeden Tag ein bis zwei Stunden lang. »Abraham hat sich oft so einsam gefühlt«, sagt sie. Auch habe er das Gefühl gehabt, nicht gut genug zu sein für seinen Vater, den Mathematikprofessor. Als Mayra Martinez kürzlich Abrahams MySpace-Seite mit all den Partyfotos sah, war sie überrascht. Diese Fotos passen nicht zu ihrem Bild von dem einsamen Jungen.
Jeder scheint einen anderen Abraham gekannt zu haben: Mayra den Einzelgänger, Kristy den Partytyp, seine Professoren den fleißigen und immer gut gelaunten Studenten. Nur die Mutter und die Schwester haben ihn in all seinen Phasen erlebt, in den manischen und in den depressiven.
Doreen Facey-Biggs erinnert sich oft an das letzte Gespräch mit Abraham. Jenes nächtliche Telefonat, als er das Gift vielleicht schon im Blut hatte. Heute kann sie es nicht fassen, dass sie nichts gemerkt hat. Immer wieder geht sie die Sätze durch und sucht nach Anzeichen, die sie übersehen haben könnte. »Man fühlt sich so schuldig, wenn sich das eigene Kind das Leben nimmt.«
Nachdem Abraham um 5.18 Uhr seinen letzten Beitrag geschrieben hat, debattieren ein Dutzend Mitglieder des Forums darüber, was von CandyJunkie zu halten sei. Schließlich haben sie nicht gesehen, wie er die Tabletten nahm. Sie sind jung wie Abraham, zwischen 16 und 26 Jahre alt, das geht aus den Profilen hervor, die sie bei ihrer Anmeldung im Forum angelegt haben. Einige kennen CandyJunkie. Nicht alle glauben an einen dummen Streich. Nur wissen sie nicht, wie sie sich verhalten sollen.
»Ich wünschte, ich könnte irgendwas tun«, schreibt um 5.32 Uhr baby matty.
»Der macht das jeden Monat«, beruhigt ihn Fairy.
»Das Einzige, was er tötet, ist seine Leber«, schreibt DeterminedToWin.
Dann tritt Schweigen ein im Forum. Erst sechs Stunden später meldet sich baby matty zurück: »Er liegt noch immer da.«
Um 13 Uhr kommt ein anderes Forumsmitglied endlich auf die Idee, zwei Moderatoren der Website zu informieren. Moderatoren sind gewöhnliche Mitglieder, die darauf achten sollen, dass alle im Forum korrekt miteinander umgehen. Der eine kennt CandyJunkie, er bezeichnet ihn als »sensationsgeile Nutte«. Der andere schickt eine Mail an den Administrator der Website, den Betreiber. Nichts geschieht.
Etwa zur selben Zeit sitzt am anderen Ende der Welt in Ahmedabad, Indien, der 17 Jahre alte Dushyant Dubey beim Abendessen, bei ihm ist es 23 Uhr. Er hat an diesem Tag lange gearbeitet. Obwohl er noch zur Schule geht, hat er schon eine Onlinemarketing-Firma gegründet. Wenn er nicht am Computer sitzt, boxt er und stemmt Gewichte. Dushyant ist täglich stundenlang online, seitdem er sechs ist. Er ist einer jener digital natives, wie Soziologen Jugendliche nennen, die ins digitale Zeitalter hineingeboren sind. Telefoniert man mit ihm, hat man das Gefühl, am anderen Ende der Leitung sitze ein weit gereister Mann um die 30. Dushyant spricht fließend Englisch, er ist es gewohnt, mit Menschen aus aller Welt zu chatten. Und er hat eine Menge gesehen im World Wide Web.
Nach dem Essen, gegen Mitternacht, meldet er sich unter dem Namen Bulker bei Bodybuilding.com an. In Florida ist es 14 Uhr. Als er auf den Beitrag von CandyJunkie stößt, vermutet auch er zunächst einen Scherz. Er und der amerikanische Student stehen täglich in Kontakt, wenn auch nur über Bildschirm und Tastatur, und obwohl sie noch nie persönlich miteinander gesprochen haben, betrachtet Dushyant CandyJunkie als Freund. Zwar kennt er seinen richtigen Namen nicht, dafür einige seiner intimsten Wünsche, und das ist vielleicht mehr, als manch anderer Freund in Florida von Abraham weiß.
Als Dushyant die Bilder auf justin.tv sieht, begreift er sofort, dass sie echt sind und kein Loop, also keine Endlosschleife derselben Bildsequenz. Und er sieht, dass der Junge auf dem Bett nicht mehr atmet. Dushyant war mit zwölf einmal in einem Chatroom Zeuge, wie ein Amerikaner vor laufender Webcam Medikamente schluckte und das Bewusstsein verlor. Die meisten Zuschauer waren der Meinung, er werde schon wieder zu sich kommen. Am nächsten Tag erfuhr Dushyant, dass der Mann tot war.
An diesem Novembertag weiß er, dass jede Minute zählt. Er erinnert sich, dass sein Freund einmal seine Handynummer im Forum hinterlassen hat, er sucht sie und recherchiert auch Abrahams richtigen Namen und seine Adresse. Beides stellt er ins Forum, mit der Aufforderung: »Ruft verdammt noch mal die Polizei an! Ich wohne in Indien und habe auf meinem Handy kein Guthaben für internationale Anrufe.«
Icosane antwortet: »Solange er nicht in seiner eigenen Kotze liegt, lebt er wohl.« Dushyant kann sich noch so sehr aufregen – keiner nimmt den Hörer zur Hand.
Psychologen erklären solche Untätigkeit mit dem »Bystander-Effekt«, auch »Genovese-Syndrom« genannt. Der Name geht zurück auf die Ermordung der 28-jährigen New Yorkerin Kitty Genovese im Jahr 1964. Damals ignorierten Dutzende von Nachbarn die Schreie der Frau, während sie vergewaltigt und erstochen wurde. Ihr Unglück war, dass zu viele ihre Schreie hörten. Niemand fühlte sich persönlich gefordert. Wenn die anderen nicht reagieren, glaubt der Einzelne oft, es liege kein Notfall vor. Deshalb sind in solchen Situationen Aussagen wie die jenes Moderators, das Opfer sei ein Lügner, fatal.
Aber Dushyant Dubey gibt noch nicht auf. Er schleicht sich ins Zimmer seiner schlafenden Eltern und holt das Handy seines Vaters. Es ist 14.30 Uhr in Florida, als er die Nummer der Polizei von Miami wählt. Aufgeregt berichtet er einem Beamten von dem angekündigten Online-Selbstmord. Der Beamte verbindet ihn ein paar Mal weiter, bis Dushyant bei einer Polizistin landet, die ihm erklärt, das Miami Police Department sei nicht zuständig. Er solle sich an die Polizeiinspektion des Broward-Distrikts wenden, in dem Pembroke Pines liegt. Dushyant ist den Tränen nahe, das Guthaben auf dem Handy seines Vaters ist aufgebraucht.
»Was für Deppen leben in Eurem Land, den USA«, schreibt er daraufhin ins Forum und hinterlässt die Nummer der Polizei von Broward. »Warum ruft IHR nicht an?!«
Zur selben Zeit macht in der US-Stadt Indianapolis, 2000 Kilometer von Pembroke Pines, Florida, und 13000 Kilometer von Ahmedabad in Indien entfernt, ein Mann namens Josh Lee Mittagspause. Er arbeitet als Systemadministrator. Auch er ist regelmäßig im Forum von Bodybuilding.com. Er entdeckt die Mitteilungen von CandyJunkie und liest sich eine halbe Stunde lang durch die Beiträge. Dabei stößt er auf Dushyants Hilferuf und informiert die zuständige Polizei. Der Beamte kann kaum glauben, was er hört: »Die haben alle zugesehen, und Sie sind der Erste, der uns anruft?« Um 14.55 Uhr stellt Lee die Nachricht auf die Webseite, dass er die Polizei gerufen hat. Die Ankündigung macht im Netz schnell die Runde, Links zum Live-Video werden auf alle möglichen Webseiten gestellt. Plötzlich werden die vorher noch so trägen User aktiv.
Etwa eine halbe Stunde später bricht die Polizei in die Wohnung von Abraham Biggs senior ein, der Vater ist noch bei der Arbeit. Die Tür zum Zimmer seines Sohnes ist verschlossen. 220 Zuschauer verfolgen, wie ein Stück des Türrahmens durch die Luft fliegt und auf dem Bein des reglosen Jungen landet. Einige wollen immer noch nicht glauben, was sie sehen. »WTF«, postet einer – what the fuck, verdammt noch mal. »Schwindelei«, schreibt ein anderer. Eine Pistole taucht am rechten Bildrand auf, dann der Rücken eines Polizisten. Er nähert sich Abraham, dann entdeckt er die Kamera, durch die die Welt in das Zimmer blickt. Er wirft ein Stück Stoff darüber. Die Vorführung ist beendet. Abraham ist tot.
Seither versucht seine Mutter, in den Ereignissen des 19. November einen höheren Sinn zu sehen. Sie ist gläubig, sie hält sich an dem Gedanken fest, dass Gott mit Abraham etwas vorhatte. »Seine Geschichte soll uns wachrütteln«, sagt sie, »sie soll uns zeigen, wie gleichgültig wir miteinander umgehen.« Deshalb will sie im Gegensatz zu ihrem Exmann, dass die Öffentlichkeit von Abrahams Schicksal erfährt.
Dass ihr Sohn seinen Selbstmord im Internet übertrug, überrascht sie nicht. »Er wollte so sterben, wie er gelebt hat«, sagt sie. Seitdem er zehn war, hat er an seinem Computer herumgebastelt. Es sei ihm nicht darum gegangen, ein Fanal zu setzen. Schließlich habe er sich nicht vor laufender Kamera erhängt, um die Nachwelt zu schockieren, wie das ein 42 Jahre alter Brite vor zwei Jahren tat, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte. Die Mutter vergleicht den Suizid ihres Sohnes vielmehr mit dem Sprung von einer Brücke. Einerseits habe er sterben wollen, andererseits auf Rettung gehofft. Ein öffentlicher Selbstmord, das haben ihr Psychologen erklärt, sei immer auch ein Hilferuf.
Wenn Doreen Facey-Biggs heute ihrem Sohn nah sein will, tut sie das, was er am liebsten tat, sie geht ins Internet. Sie ist Mitglied bei Facebook geworden und steht jeden Tag in Kontakt mit ihren virtuellen »Freunden«. »So anonym, wie alle behaupten, geht es da gar nicht zu«, sagt sie, »und es wäre naiv, zu glauben, dass das Internet an Abrahams Tod schuld ist.« Ihre Pinnwand ist voller Kommentare, die sie aufheitern sollen. Und sie hat erlebt, wie mitten in der Nacht, wenn ihr die Gedanken an Abraham den Schlaf rauben, plötzlich ihr Chat-Fenster am Computer aufpoppt und eine Facebook-Freundin fragt: »Kannst du auch nicht schlafen?« Sie hat diese Frau noch nie persönlich gesehen, und doch war ihre Nachricht in diesem Moment ein Trost.
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